27. Februar 2024
Zu früh geboren, als kleine Portion Leben mit einem Herzfehler, verbrachte Joshua die ersten zehn Wochen seines Lebens in der Kinderklinik. Kurz nach der Entlassung wurde bei einer ersten Kontrolluntersuchung vom Kardiologen angeraten, eine Kalzium-Phosphat-Stoffwechsel-Störung beim Kinderarzt abzuklären. Es war ein erster ernstzunehmender Hinweis auf eine seltene genetische Erkrankung mit dem Namen Williams-Beuren-Syndrom (WBS).
Blieb es ungelesen, war es Unwissenheit oder eine kinderärztliche Fehleinschätzung, man weiß es nicht, sagt seine Mama. Aber immer noch merkt man ihr an, wie stark es sie belastete, dass Joshua durch die lange Nichtabklärung wertvolle Zeit verloren hat. Es verletzt, nicht ernstgenommen zu werden, sagt sie. Immer noch kämpft sie mit der Bemerkung des Kinderarztes damals, warum denn für sie alles einen Namen (Diagnose) haben muss.
Erst kurz vor seinem 1. Geburtstag kam alles in Gang, Joshua nahm bis dahin keine feste Nahrung zu sich, und auch, wenn man ihm als Frühchen zugestand, mehr Zeit für Wachstum und Entwicklung zu brauchen, konnte die Situation nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass etwas Anderes nicht stimmte.
Endlich die klärende Diagnose im Sozialpädiatrischen Zentrum: Deutlich waren bereits viele Zeichen der Erkrankung wie die besondere Gesichtsform („Elfengesicht"), seine besonders schmale Gestalt, geringes Wachstum, hypertone Muskulatur, die geistige Retardierung, eine Einschränkung der physiologischen Öffnung der Herzklappe (Aortenklappenstenose), Einlagerungen von zu viel Kalzium… Die endokrinologische Untersuchung bestätigte das seltene genetische Syndrom, an dem bis zu 1 unter 7.500 Kindern erkranken können.
Es kommt für das Williams-Beuren-Syndrom wie für andere seltene Erkrankungen immer wieder vor, dass Diagnosen spät oder gar nicht getroffen werden, weil die klinische Erfahrung fehlt und Spezialisten nicht rechtzeitig konsultiert werden.
Als Joshuas Eltern das erkannten, begannen sie ärztliches Handeln zu hinterfragen und bauten sich ein unterstützendes Netzwerk für die komplexen Gesundheitsprobleme: mit einem neuen Kinderarzt, mit der Beratung und dem Austausch im Bundesverband Williams-Beuren-Syndrom und mit seinem wissenschaftlichen Beiratsmitglied Prof. Dr. med. Rainer Pankau, der seinen Forschungsschwerpunkt bei WBS gesetzt hatte.
Besonders stärkt der Austausch mit anderen Eltern, sagt Joshuas Mama. Sie erzählt vom guten Gefühl bei den alle drei Jahre stattfindenden Deutschlandtreffen des WBS mit mehreren hunderten Teilnehmern dabei zu sein, mit Betroffenen aller Altersgruppen zwischen sechs Monaten und 50 Jahren in Kontakt zu kommen, gemeinsam zu fachsimpeln, aber auch über die Verhaltensangewohnheiten der Kinder und die alltäglichen und außergewöhnlichen Dinge sprechen zu können. Unsere Kinder sind schon ein bisschen special, sagt sie (und lacht).
Joshua ist heute 13 Jahre alt, Schüler der 7. Klasse in einer schleswig-holsteinischen Schule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung und fährt gerne jeden Tag von seinem Wohnort Ostholstein 30 Kilometer zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Er kennt dort alle und ist mit seinem Wesen als fröhlich, aufgeschlossen, fein- und mitfühlend sehr beliebt. Seine geistige und sprachliche Entwicklung brauchte viel Zeit, sagt die Mama: Joshua, ist aber eigentlich immer glücklich, wenn nicht gerade die Pubertät durchscheint (sie lacht). Das Verstehen fällt ihm oft schwer, aber auffällig ist seine ausgeprägte Liebe zur Musik, zu Instrumenten und seinem Soundmaster.
Das zählt seine Mama zum größten Schritt im Leben mit Joshua. Nicht selten wurde das durch äußere Einflüsse nicht leichtgemacht. Lange Wege und Nerven kosteten von Anfang an auch der Kampf um Hilfsmittel und soziale Nachteilsausgleiche.
Schon die notwendige Ausstattung mit Rehakarre und Therapiestuhl auch für die Kinderkrippe konnte nur mit Unterstützung des Kinderzentrums erstritten werden. Ein Therapiedreirad wurde zweimal von der Krankenkasse abgelehnt, mit der Begründung, Joshua wäre nicht in der Lage, das Rad allein zu bedienen. Natürlich kann Joshua nicht ohne Begleitung Radfahren. Seine Eltern ärgert aber, wie gedankenlos Teilhabechancen ohne nachzufragen einfach mit solchen Bemerkungen weggewischt werden.
Egal, ob Einlagen für die Schuhe oder Begleitung in der Schule, für Kinder mit seltenen Erkrankungen muss man sich wieder erklären und kämpfen. Klar, das Wissen kann man bei Ämtern und Behörden nicht selbstverständlich voraussetzen. Joshuas Vater wendet aber ein: Muss man nicht im Zeitalter des Internets verlangen können, dass man sich als zuständiger Sachbearbeiter kundig macht, was es bedeutet mit einer seltenen Erkrankung zu leben?
Vor zwei Jahren lief der Schwerbehindertenausweis von Joshua aus. Da das Verwaltungsverfahren im Rahmen eines Verschlimmerungsantrages länger dauert, wurde Joshua ein vorläufiger Schwerbehindertenausweis mit der Gültigkeit von sechs Monaten ausgestellt. Alle Anfragen der Eltern beim zuständigen Versorgungsamt zum Stand der Dinge liefen ins Blaue, es kam nach sechs Monaten noch eine Verlängerung und dann noch eine. Entkräftet sagten sich die Eltern: Das reicht.
Mit Unterstützung von Annika Schneekloth, Sozialjuristin im BDH Bundesverband Rehabilitation, half zunächst der Schriftverkehr, damit sich etwas bewegte, wenn auch zunächst nicht in die richtige Richtung. Die Ablehnung erfolgte nach nun 14 Monaten nach Antragstellung. Es folgt der Widerspruch mit einer umfangreichen Begründung. Auch dem wurde nicht nach Aktenlage entschieden. Ein Gutachten eines Kinderarztes sollte dann die Wende bringen, rückwirkend wurde dann nach knapp zwei Jahren später einer Erhöhung des Grades der Behinderung auf 100 Prozent zugestimmt.
Joshuas Eltern sind erleichtert, auch, wenn eine bittere Note zurückbleibt: Das nervende Problem an der Sache, sagen sie: Je unbekannter das ganze Krankheitsgeschehen ist, umso stärker steht man in der Pflicht aufzuklären. Aber sie sind sich sicher: „Gemeinsam mit dem BDH hätten wir uns aber auch stark genug gefühlt zu klagen“.
Eltern von Kindern mit seltenen Erkrankungen müssen gestärkt werden, um die Interessen ihrer Kinder durchzusetzen, ist ihre Bitte. Und nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Dafür sind ermutigende und informierende Zusammenschlüsse so wichtig. Diese Erkenntnis hat besonders Joshuas Mutter bewegt, sich nicht für ihren Sohn, sondern auch für andere einzusetzen, als Mitglied im Elternbeirat der Schule oder als regelmäßige Referentin in eigener Sache vor Medizin-Studentinnen und -Studenten der Humangenetik der Uni Lübeck.
Sie kämpft dafür, dass ihr Kind besser gesehen wird, das Verständnis gegenüber den besonderen Bedürfnissen einer seltenen Erkrankung wächst. Joshuas Vater treibt um, wie sein Sohn ein eigenständiges Leben führen kann, ohne die Hürden, die immer wieder zu nehmen sind. Beide wünschen sich für ihn, dass er als Erwachsener das machen kann, was ihm Freude macht, er Arbeit und einen Lebensort finden kann, wo er glücklich wird. Nichts Außergewöhnliches, aber mit außergewöhnlichen Herausforderungen.